WILLI FACEN


Texte und Zitate über Willi Facen

Das Atelier des Willi Facen

Ein Überlebens-Raum

von Peter Zeindler

Ein Stuhl steht auf einem Teppich mit einem verblassenden Muster. Seine Sitzfläche glänzt matt im Tageslicht, das durch die Milchglasscheibe gedämpft von oben durch das Dach einfällt. Der Stuhl steht so, dass jemand, der sich hinsetzen möchte, kein Bild im unmittelbaren Blickfang hätte, obwohl dieser Raum überall voller ungerahmter Bilder ist. Sie sind aufeinandergestapelt, hängen an den Wänden oder sind auf die Wand gepinnt oder, dagegen gelehnt. Willi Facens Atelier erweckt den Eindruck, als ob der Maler soeben weggegangen sei. Auch der Hocker vor dem alten Schreibtisch steht leicht schräg und verrückt. Man stellt sich vor, dass Willi Facen lange vor dieser Tischplatte gebrütet hat, auf der aus vielen Töpfen Pinsel wachsen und unschlüssig auf das bizarre Muster, das die zerkrümmten und zerknautschen Farbtuben bilden, gestarrt hat und dann, weil er dem Andrang der innern Bilder noch nicht gewachsen war, hinausgegangen war, um Luft zu holen.

Dieser Atelier-Raum ist voller Leben, auch dann, wenn sich niemand darin befindet, wenn der Maler abwesend ist. Es ist Willi Facens Lebens-Raum. Er ist gefüllt, erfüllt mit Fragmenten aus seinem Leben, mit Gegenständen, die der leidenschaftliche Sammler überall, wo es ihn hintrieb, gekauft hat, um seinen Lebensweg zu dokumentieren, eine sichtbare Spur durch seine Biographie zu legen. Da hängt züm Beispiel eine französische Generalsuniform ans dem Ersten Weltkrieg an einem Bügel, da stehen Porzellangefässe in jeder Grösse und Farbe herum, ein Emailkrug, ein Reisekorb. An der Wand ist ein altes Wirtshausschild befestigt, auf der Fensterbank sitzt erstarrt eine Gliederpuppe als warte sie auf ihren Auftritt. Da steht ein alter Briefpostkasten, liegen seltsame Versteinerungen. Und überall hängen und stehen Uhren herum: Das monströse Uhrwerk einer Kirchenuhr auf einem hölzernen Sockel, Standuhren, Wecker; alle sind sie stehen geblieben. Die Zeit ist in diesem Raum angehalten worden. Die Zeit nicht als Ablauf, sondern als Raum, als gelebter Raum in der Zeit.

Wenn Willi Facen vor einer weissen Fläche sitzt, ist um ihn herum sein ganzes vergangenes Leben gegenwärtig, spürt man, dass die Sammlerleidenschaft des Malers mit seinem Bedürfnis zu tun hat, die Spuren seines Lebens festzuhalten, gelebtes Leben nicht einfach verloren zu geben. Aber dieses gelebte Leben ist nicht Vergangenheit, lässt ihm keine Ruhe, sondern heizt ihn an, hält ihn in Trab, ist sichtbarer Zeuge seiner innern Welt.

Und so ist dieses Atelier für Willi Facen auch ein Überlebens-Raum. Draussen im kleinen Vorhof und Garten, wo Unkraut die magischen Ornamente der Pflastersteine überwuchert, steht ein Bronzeguss des Maillol-Schülers Ernst Suter bereits mit einer grünen Patina bezogen, ein junger Mann in unnatürlicher Denkerpose verrenkt, der auf Willi Facens Grab stehen soll: Auch dieser scheinbare Schlusspunkt einer Biographie ist Teil des Beschwörungsrituals, Zeugnis von Facens Überlebenstrategie.

Zurück ins Atelier: In der linken Ecke steht ein grossformatiges Bild auf einer Staffelei: "Noahs Enkel" ist sein Titel. Es ist dies eine der Untergangsvisionen, die der Maler in dieser Schaffensphase in vielen Variationen gestaltet hat. Im Vordergrund ein gewaltiges altes Schiff ans Holz, in dessen Bauch eine ganze Stadt aufgebaut ist, eine Metropole, die griechische Mutterstadt, jetzt aber verlassen und verödet. Die Sintflut ist überstanden.

Das Wasser ist gesunken, das Schiff ist gestrandet, hat sich zwischen den Felsen verkeilt, während sich die bedrohlichen Wassermassen unter ihm zurückgezogen haben. Den Überlebenden, sofern es solche gibt, bleibt nur noch der Sprung in die Tiefe. Sie sind Gefangene des Schiffes, das sie als Rettungsvehikel gebaut haben. Den Überlebensgedanken ad absurdum geführt.

Willi Facen ist wieder in seinen Überlebens-Raum zurückgekehrt. Die Beschwörungsrituale der Endgültigkeit wirken. Sein Weggehen war nur vorläufig. Auf dem Holzstuhl, der zuvor noch verlassen in der Mitte des Raumes gestanden hat, sitzt jetzt eine junge nackte Frau, das Modell des Malers, den Rücken dem Betrachter zugekehrt, nicht aber dem Maler, der jetzt auf dem Hocker Platz genommen hat, den Skizzenblock auf den Knien. Die Frau hat ihr Gesicht leicht abgewandt, so dass Nase und eine Wange nur halb zu sehen sind. Ihr rotblondes Haar fallt über ihre rechte Schulter. Ihr sinnliches ausladendes Gesäss ruht auf einem dunkelroten, sorgfältig drapierten Samtvorhang.

Vorhang auf.

Reale Körper beleben jetzt den Raum zusätzlich. Die Überlebensbilder, die Facen besetzt halten, sind in diesem Augenblick ferne Kulisse. Die deutsche Bezeichnung für ein kunsthistorisches Genre, Stillleben, trifft auf Willi Facens Malerei beim Wort genommen zwar nicht zu. Wenn man aber über den englischen Genrebegriff Still Life hinaus weiterdenkt, fällt einem ein bedeutsames Wort ein: Still alive. Es trifft auf Willi Facens Werk zu und charakterisiert den Überlebens-Raum, in dem es entsteht.

Willi Facen stellt seine gemalten Bilder, gegen die Bilder, die ans seiner Vergangenheit nachdrängen und setzt sie neu zusammen, gibt ihnen die endgültige künstlerische Form, die sein Überleben garantiert.

Peter Zeindler

Aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Zürcher Predigerkirche, 17. März 2006


Willi Facens Bilder erzählen Geschichten – in Anführungszeichen gesetzt – "Biblische Geschichten". Dies trifft mindestens auf die Archebilder und auf die Türme zu, die wohl bei jedem Betrachter Assoziationen an die Geschichten um Noah und den Turmbau von Babylon provozieren. Unsere Phantasie wird in Gang gesetzt. Und wenn wir all die hier ausgestellten Bilder, die unter dem Titel "Sintflut in der Predigerkirche" miteinander vergleichen, glauben wir auf den ersten Blick auch ein Programm zu erkennen, das diesem Zyklus zugrunde liegt: Wir definieren Willi Facen als Maler von Untergangsvisionen. [...]
Wenn man Willi Facen jedoch näher kennt, sein privates Umfeld, sein Atelier, wenn man mit ihm spricht, begreift man, dass dieses angesprochene Programmatische in Facens Werk keinen moralisierenden Hintergrund hat, sondern aus einer ganz privaten Betroffenheit des Malers herausgewachsen ist, aus einem Thema, das im Zentrum seiner Biographie steht und das er immer wieder von einer neuen Seite her angeht, um es zu bewältigen. Willi Facen ist ein Überlebenskünstler.

In dieser Ausstellung verfolgen wir den Bau dieses Überlebensschiffes, blicken in dessen Bauch, bewundern den hyperrealistisch detailbesessen konstruierten Aufbau, sehen eine ganze Stadt, eine Metropole, ein Stadtschiff, das im Kirchenschiff, an einem Ort der Zuflucht und des Trostes, gebaut wird und dann, fertiggestellt, langsam hochgehoben wird und endlich von Stapel geht. Aber das Schiff geht nicht auf Entdeckungsreise, sondern mit der versammelten Menschheit, einer Schicksalsgemeinschaft an Bord, versucht es, dem drohenden Untergang zu entgehen: Die Arche ist Überlebebensraum, ein Überlebensvehikel. Später finden wir diese Archen gestrandet, in Felsen verkeilt, teilweise zum Wrack, zum ausgeweideten Skelett mutiert, wieder. Menschen sind auf diesen Bildern fast keine zu sehen. Die meisten sind noch einmal davon gekommen. Das Wasser hat sich zurückgezogen. Die Sintflut ist überstanden. 

In einer zweiten Folge, im linken Seitenschiff, greift Willi Facen dasselbe Thema noch einmal auf: Diesmal hat er anstelle der Archen das Motiv der Türme mehrfach variiert – Babylonische Türme. Diese scheinbar unverrückbaren Türme, die einer zweiten Sintflut trotzen sollen, sind gleichzeitig Festung, Bunker, Symbole des Widerstandes, aber auch der Hybris der Menschen, der Verstiegenheit. Und assoziiert man nicht auch Gefängnis, Verliess – selbstgewähltes Gefängnis? Und letztlich werden sie – zu Ruinen zerfallen – von den Menschen, die noch einmal davon gekommen sind, zu touristischen Begegnungsstätten transformiert – zu lukrativen Kulturschauplätzen degradiert. 

In einem dritten Zyklus variiert Willi Facen dasselbe Thema auf der individuellen Ebene ein weiteres Mal: Diese Zeichnungen, Skizzen und Aquarelle zeigen Stresssituationen, bei der Arbeit, in der Natur, zeigen verlebte Frauenkörper, zerwühlte Betten, die trostlose Erinnerung an eine Nacht der Albträume. Wir spüren das Aggressionspotential, das Facen diesen Bildern unterlegt hat, in denen er die aufgeladenen, gedopten Protagonisten unseres Zeitalters als entseelte Maschinenmenschen darstellt: Noahs Enkel.

In der Abgeschiedenheit seines Ateliers malt Facen gegen den Untergang an, auch gegen seinen persönlichen Untergang, gegen seinen ganz individuellen Tod. Es gibt eine ganze Folge von Bildern, in denen Willi Facen das Sterben und den Tod seiner Mutter festgehalten hat. Festgehalten? – Willi Facen hat auch hier gegen das Vergängliche angemalt, hat diese Bedrohung weggemalt, hat sie malend zu überwinden, hinter sich zu lassen versucht. Diese Bilder der sterbende Mutter sind demnach auch Bewältigungsbilder, genauso wie seine Darstellungen der Archen oder der Türme.

Willi Facens Auseinandersetzung mit Sterben und Tod – als Mensch und als Künstler – findet in den hier ausgestellten Bilderzyklen ihren allgemein verbindlichen Ausdruck: Sein künstlerisches Werk hat, um auf den Anfang zurückzukommen, so gesehen, etwas Programmatisches; letztlich aber – und das hoffe ich, Ihnen vermittelt zu haben – letztlich aber spiegelt sich in diesen ausgestellten Bildern berührend und eindrücklich Facens Fähigkeit, das Private ins Allgemeine transponieren zu können und in eine überzeugende künstlerische Form zu fassen. Untergang und Überleben, wie auch immer, ist das letzte Thema des Individuums, und um diese Thematik darzustellen, bildet und gestaltet der Künstler diesen Lebens- und Sterbestoff von seiner eigenen Biographie weg, bringt ihn auf die Distanz, die das Kunstwerk letztlich kennzeichnet, wenn es diesen Namen verdienen will. 

 


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